Auf den Spuren klösterlicher Textarbeit
2. Arbeitsgespräch im Kloster Wienhausen
7./8. Dezember 2018
Programm
Freitag, 7. Dezember
Äbtissin Renate von Randow: Begrüßung
Wolfgang Brandis/ Simone Schultz-Balluff: Begrüßung und Einführung
Sektion ‚Innen-Leben‘ (Moderation: Henrike Lähnemann)
Jürgen Wolf: Gebetbücher überall: Überlieferung, Gebrauch und Rezeption einer omnipräsenten Buchgattung
Britta-Juliane Kruse: Wienhäuser Gebetsheftchen
Heike Sahm: Die niederdeutsche ars moriendi und das Kloster Wienhausen
Julika Sarah Moos: Zwischen Meditation und Magie? Überlegungen zu den Wienhäuser Miniaturhandschriften
Sektion ‚Nonnen-Netzwerk‘ (Moderation: Timo Bülters)
Edmund H. Wareham: de mote juk lumine gratie sue illustreren intus ac foris. Die Wienhäuser Andachtsbilder: Neue textliche Beweise aus der Lüner Briefsammlung
Henrike Lähnemann: Marginal? Text-Bild-Beziehungen in Wienhäuser Andachtsbildern und Medinger Andachtsbüchern
Archiv digital
Wolfgang Brandis: Die (noch) nicht öffentliche Datenbank „PicAr“ der Klosterkammer Hannover
Samstag, 8. Dezember
Sektion ‚Kloster-Sprache‘ (Moderation: Britta-Juliane Kruse)
Ingrid Schröder: Medizinische Fachliteratur im Kloster Wienhausen: Das Arzneibuchfragment Hs 10
Luise Czajkowski: Fragmente deutschsprachigen Gebrauchsschrifttums aus dem Kloster Wienhausen
Claudia Wich-Reif: Kompetenz und Kreativität: Code-Switching als Spracharbeit im Kloster Wienhausen
Sektion ‚Fund-Stücke und Wieder-Entdecktes‘ (Moderation: Heike Sahm)
Nina Bartsch/ Raymond Graeme Dunphy: ...wy mosten de dök affsetten und Kragen und Mützen upsetten. Die Chronik des Klosters Wienhausen als ‚Kleinod mittelalterlichen Geistes‘?
Mai-Britt Wiechmann: Ego promitto... – Professzettel aus dem Kloster Wienhausen
Annika Bostelmann: Vorüberlegungen zu einer Neuedition des Wienhäuser Liederbuchs
Timo Bülters/ Simone Schultz-Balluff: ...vnde hebben dat gelecht ad nostram librariam. Geheimnisse der Makulatur: Skriptorium und Bibliothek in Wienhausen
Tagungsbericht
Annika Bostelmann (Rostock)
Am 7./8. Dezember 2018 fand bereits das 2. Arbeitsgespräch unter dem Titel „Auf den Spuren klösterlicher Textarbeit“ im Kloster Wienhausen statt. Das Treffen wurde von SIMONE SCHULTZ-BALLUFF (Bonn) und WOLFGANG BRANDIS (Wienhausen), dem Archivar der Lüneburger Klöster, veranstaltet; realisiert werden konnte es mit freundlicher Unterstützung der Klosterkammer Hannover, der VGH-Stiftung und des Klosters Wienhausen. Den inhaltlichen und materiellen Ausgangspunkt der Tagung bildeten die im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Wienhausen aufbewahrten und zum Teil bisher nur wenig erschlossenen handschriftlichen Bestände. Die insgesamt 14 Vorträge boten dabei einen Einblick in die monastische Quellenvielfalt zwischen Andacht, Gebet und Gesang, Heilen, Unterricht und (Aus-)Bildung sowie Verwaltung und Kommunikation.
In einer ersten Sektion „Innen-Leben“ (Moderation: HENRIKE LÄHNEMANN) standen Handschriften im Mittelpunkt, die für die private Andacht der Nonnen produziert worden sind und deren Funktionen dabei in erster Linie auf Erbauung und Prozesse der Verinnerlichung gerichtet waren. Eröffnet wurde die Tagung mit einem Beitrag von JÜRGEN WOLF (Marburg), der sich mit der Überlieferung und dem Gebrauch von Gebetbüchern beschäftigte. Als prinzipiell offene Gattung variieren diese in Gestaltung, Ausstattung und Textbestand äußerst vielfältig und sind sowohl in monastische Kontexte aber auch in den Rahmen privater Frömmigkeit zu verorten, obgleich die Grenzen hier oft nicht klar gezogen werden können. Als Buchtyp, der seit dem 12. Jahrhundert nachgewiesen werden kann, beinhalten Gebetbücher von Beginn an oft vernakulärsprachliche Anteile, ab der Mitte des 13. Jahrhunderts begegnen dann auch Textzeugen, die vollständig in Vernakulärsprache verfasst sind. Im Spätmittelalter vervielfachte sich die Anzahl der Gebetbücher insgesamt und auch im Wienhäuser Bestand machen sie einen wesentlichen Teil der Überlieferung aus, sodass sie zurecht als „omnipräsente Buchgattung“ gelten können.
Ebenfalls mit einem spezifischen Überlieferungsverbund von Gebeten befasste sich der Vortrag von BRITTA-JULIANE KRUSE (Wolfenbüttel), die anhand eines schmalen Konvoluts von drei Gebetsheftchen (Hs 101) nach den klösterlichen Vorstellungswelten fragte, die sich ausgehend von den handschriftlichen Quellen skizzieren lassen. Während die Heftchen 1 und 3 einen fragmentarischen Charakter aufweisen und vermutlich größeren handschriftlichen Zusammenhängen entstammen, überliefert das zweite eine kleine und scheinbar abgeschlossene Sammlung von Gebeten an die Engel, die nach den himmlischen Hierarchieebenen gegliedert ist. Mit dem Verweis auf Engeldarstellungen in den Räumen des Klosters Wienhausen gelingt es KRUSE, textuelle und ikonographische Quellen miteinander in Bezug zu setzen und in einen gemeinsamen monastischen Vorstellungsrahmen zu verorten.
Den Ausgangspunkt für die von HEIKE SAHM (Göttingen) präsentierten Überlegungen zu den niederdeutschen Ars moriendi bildete die Wienhäuser Handschrift Hs 102. Auf der Grundlage der umfangreichen Drucküberlieferung konnte SAHM dabei Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante Unterschiede in der hoch- und niederdeutschen Überlieferung der Sterbelehren herausarbeiten. Gemeinsam ist den deutschsprachigen Sterbelehren eine Betonung der innerlichen Vorbereitung auf den Tod – im Moment des Todes möge der Sterbende mit dem Herzen den Herren anrufen. Ausschließlich in den niederdeutschen Sterbelehren findet sich dann eine Ergänzung des Aspektes der Verinnerlichung, indem dieser dezidiert eine Veräußerlichung von Frömmigkeit entgegengesetzt wird: Der Sterbende möge mündlich bekennen, dass er zu sterben bereit sei und auch in der Qual der Todesstunde ungläubiges Denken durch Gebete und Glaubensbekenntnisse in Anwesenheit von Zeugen gleichsam „überstimmen“. Zudem legten die niederdeutschen Ars moriendi einen größeren Schwerpunkt auf das Lesen bzw. auf eine lesende Begleitung der Todesstunde, die Bücher werden somit selbst zum Zeichen eines guten Sterbens.
Einem weiteren Aspekt der religiösen Verinnerlichung widmete sich JULIKA SARAH EPP (Göttingen), indem sie einen Bestand von Handschriften im Kleinstformat aus dem Kloster Wienhausen auf seine potentiellen Funktionen und Nutzungskontexte untersuchte. Die oft einfach ausgestatteten Codices enthalten dabei Texte zum liturgischen und paraliturgischen Gebrauch wie Hymnen oder Gebete. Dabei fällt auf, dass die Handschriften keineswegs nur Incipits verzeichnen, wie es das Format vermuten ließe, sondern vollständige Texte oder Textauszüge beinhalten. Neben einer praktischen Nutzung für die individuelle Andacht sind darüber hinaus auch Verwendungskontexte denkbar, in denen den Miniaturhandschriften durch enges Tragen am Körper eine amulettartige Funktion zugewiesen werden könnte, dabei würden die Texte doppelt internalisiert: codifiziert im Buch und meditiert im (und nahe am) Herzen.
Die zweite Sektion wandte sich unter dem Thema „Nonnen-Netzwerke“ (Moderation: TIMO BÜLTERS) der klösterlichen Kommunikation mit der Außenwelt zu. Neben den Wienhäuser Handschriften wurden dazu auch Bestände aus den Klöstern Lüne und Medingen in die Überlegungen miteinbezogen, wobei die Vorträge insbesondere ikonographische Traditionen in den Mittelpunkt des Interesses rückten. EDMUND H. WAREHAM (Oxford) untersuchte den Bestand der aus dem Kloster Lüne enthaltenen Briefe, die sich über einen Zeitraum von 1460 bis 1550 erstrecken, bezüglich der Hinweise, die diese auf den Austausch von Geschenken geben. Im Mittelpunkt stand bei WAREHAM die Versendung von Andachtsbildern, die in den Briefen verschiedentlich erwähnt wird und die auch für das Kloster Wienhausen angenommen werden kann. Während nun über die konkreten Kontexte von Produktion und Vertrieb der Bilder nur wenige gesicherte Informationen vorliegen, verweisen die Lüner Briefe auf eine Gabenpraxis, in der die Grenzen zwischen Brief, Bild und Geschenk im Einzelnen verschwimmen; die Versendung von Andachtsbildchen kann für die Nonnen dabei als besonderer Ausdruck ihrer Identität gelten.
Einem weiteren Aspekt ikonographischer Traditionsbildung widmete sich HENRIKE LÄHNEMANN (Oxford), indem sie sich mit den Text-Bild-Beziehungen auf Andachtsbildern, die in Wienhausen überliefert sind, sowie Andachtsbüchern aus dem Kloster Medingen beschäftigte. Im Fokus stand dabei die Frage nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Während bei den Andachtsbildern eine Erläuterung und Ausdeutung der Darstellungen durch die lateinischen Glossierungen erfolgt und die Abbildungen somit deutlich in den Vordergrund gerückt sind, stellt sich der Fall in den Medinger Handschriften genau entgegengesetzt dar: Die Abbildungen begleiten und kommentieren hier den Text; unterstützt werden sie dabei durch marginale Texterläuterungen, die auch volkssprachig verfasst sein können. Zusammenfassend stellen sich die Andachtsbilder in Wienhausen als Teil einer übergreifenden Textproduktion dar, in der sich der Übergang zwischen einzelnen Produktionsformen (Buch – Heft – Zettel – Fragment) als materiell wie textuell flexibel erweist. In den Andachtsbildern greifen Aspekte kollektiver Spiritualität, liturgischen Vollzugs und individueller Andacht ineinander und ergänzen sich.
Am Abend des ersten Veranstaltungstages wurde das Tagungsprogramm durch den Vortrag von WOLFGANG BRANDIS (Kloster Wienhausen) ergänzt, der mit einem historischen Überblick über die Klosterkammer Hannover eingeleitet wurde. Das Verstehen der historischen Zusammenhänge, insbesondere zwischen den Lüneburger Klöstern und den Calenberger Klöstern einerseits und der Klosterkammer andererseits, ist für das Verständnis der heutigen Verfassung der Klöster, ihrer kulturhistorischen Relevanz und der besonderen Überlieferungssituation von großer Bedeutung. Damit wiederum leitete Brandis über zu der von der Klosterkammer zusammen mit ihm in den letzten fünf Jahren entwickelten Datenbank „PicAr“, vorrangig für das Kunstinventar und die Archive der Klöster, aber auch für Dienst- und Konventsbibliotheken. Die bisher ausschließlich intern zugängliche Datenbank soll später auch externen Nutzern zugänglich gemacht werden.
Die Beiträge der dritten Sektion „Kloster-Sprache“ (Moderation: BRITTA-JULIANE KRUSE) näherten sich dem Wienhäuser Bestand unter linguistischen Fragestellungen; im Fokus standen dabei sowohl konkrete Sprachwandelprozesse als auch grundlegende Wissens- und Bildungskontexte, in denen Texte im Kloster produziert und rezipiert werden konnten. Am Beispiel des Wienhäuser Fragments Hs 10, das in einem ersten Teil ein Arzneibuch und in einem weiteren eine Sammlung von Rezepten für gebrannte Wässer überliefert, arbeitete INGRID SCHRÖDER (Hamburg) einerseits die syntaktischen Formulierungsmuster für Handlungs- und Sachwissen heraus, nach denen die Rezepte formuliert sind, und weist andererseits auf die spezifische Lexik der Texte hin: So werden insgesamt nur wenige einfache Strukturen und Formulierungsmuster gebraucht („Kräuterbuchschema“), auf lexikalischer Ebene werden sowohl fach- als auch alltagssprachliche Elemente verwendet, der Sprachstand variiert zwischen Latein und Niederdeutsch. Insgesamt sei für die Texte ein geringer Grad an Fachlichkeit zu konstatieren, der sich in der Verdunklung der lateinischen Terminologie und der geringen Spezifizierung des deutschen Wortschatzes ausdrückt. Gehörten somit medizinische und pharmazeutische Texte zu den klösterlichen Wissensbeständen, habe im Kloster jedoch die Bewahrung des heilkundlichen Wissens im Mittelpunkt gestanden, weniger dessen Anwendung auf Grundlage der Handschriften.
Der Beitrag von LUISE CZAJKOWSKI (Leipzig) widmete sich dem Sprachwandel, der anhand der Wienhäuser Quellen nachgewiesen werden kann. Auf der Basis einer Stichprobe von neun vernakulärsprachlichen Handschriften und 58 Urkunden mit insgesamt 27.201 Wortformen bzw. 6.514 Types analysierte sie die Schreibsprache, die sich als im Kern ostfälisches Niederdeutsch mit zunehmenden hochdeutschen Einflüssen beschreiben lässt. Insbesondere stellte CZAJKOWSKI die Frage zur Diskussion, ob sich die Urkunden aufgrund ihrer zeitlichen Streuung und räumlichen Konsistenz besonders zur Herausarbeitung einer spezifischen Schreibsprache für Wienhausen eigneten, auch wenn diese stärker als Träger konservativerer Schriftlichkeit gelten können als andere Textsorten und sich somit langsamer wandeln.
Eine spezielle Form des Sprachwandels unter synchroner Perspektive betrachtete CLAUDIA WICH-REIF (Bonn) in ihrem Vortrag: Verschiedentlich wurde in Forschungsbeiträgen bereits die Theorie des „Code-Switchings“ für Texte älterer Sprachstufen fruchtbar gemacht. Dabei versteht WICH-REIF Code-Switching als immer bewusste Strategie des Wechsels von einer Sprache in eine andere, wobei jedoch auf der Ebene von Einzel- wortformen nicht sicher zwischen Switching (Wechsel), Mixing (Mischen) und Borrowing (Entlehnen) unter- schieden werden kann. An Beispielen aus dem Wienhäuser Bestand konnte sie funktionale und kreative Prozesse des Code-Switchings sowohl in lateinischen als auch in vernakulärsprachlichen Texten nachweisen, wobei für jede Textgattung andere Formen des Code-Switchings dominant erscheinen.
Die vierte und abschließende Sektion „Fund-Stücke und Wieder-Entdecktes“ (Moderation: HEIKE SAHM) bot die Gelegenheit, zunächst auf Quellen aus dem Wienhäuser Bestand hinzuweisen, die bisher in der Forschung nur wenig Berücksichtigung gefunden haben. Darüber hinaus konnte in diesem Zusammenhang aber auch auf bereits bekannte Handschriften eingegangen werden, bei denen dennoch ein neuer und vertiefender Blick lohnenswert erscheint. Ein Beispiel dafür bildete die Wienhäuser Klosterchronik (Hs 20), die von NINA BARTSCH (Würzburg) und RAYMOND GRAEME DUNPHY (Würzburg) zunächst im erweiterten Kontext mittelalterlicher Ordenschronistik vorgestellt wurde. Der Inhalt der Chronik erstreckt sich von der Stiftung des Klosters bis in das 18. Jahrhundert, der Schwerpunkt liegt dabei auf dem 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. Mit einer exemplarischen Analyse von graphematischen, lexikalischen und stilistischen Strate- gien bei der Abfassung der Chronik konnten BARTSCH und DUNPHY zahlreiche Brüche und Inkohärenzen so- wohl auf materieller als auch inhaltlicher und sprachlicher Ebene nachweisen, sodass sich die Chronik nicht als homogenes Textzeugnis des 17. Jahrhunderts präsentiert, sondern ihr vielmehr ein im Detail sehr komplizierter Kompilationsprozess zugrunde gelegen haben dürfte, der bis in das Mittelalter zurückreicht. Anhand des kleinen Bestandes von 13 Professzetteln, die sich aus Lüneburger Klöstern erhalten haben (dabei sechs aus Wienhausen), stellte MAI-BRITT WIECHMANN (Oxford) in ihrem Beitrag eine Quellengattung vor, die sich zwar auf eindrucksvolle Weise an der Schnittstelle zwischen klösterlicher Schriftlichkeit und religiöser Performanz befindet, gleichzeitig aber bisher nur wenig erforscht worden ist. Die kleinformatigen Zettel aus Pergament wurden möglicherweise von den Professen selbst für den Übertritt in das Kloster angefertigt; dabei folgen die Texte einem stark normierten Aufbau, sie enthalten aber eigenhändig zugefügte Kreuzzeichen und sind oft auch durch zusätzliche Elemente geschmückt. Der primäre Verwendungskontext der Zettel besteht in ihrer Verlesung während der Profess, später sollen sie von der Äbtissin aufbewahrt werden. Für die Professzettel aus den Lüneburger Klöstern sind jedoch ungeachtet des Archivierungsgebots Formen der Weiternutzung auszumachen, die sich aus dem individuellen Wert für die einzelnen Konventualinnen einerseits sowie aus dem materiellen Wert ihres Beschreibstoffes andererseits erklären können.
Seit ihrer Wiederentdeckung 1934 ist die als „Wienhäuser Liederbuch“ bekannte Handschrift Hs 9 verschiedentlich auf das Interesse der Wissenschaft gestoßen. Die kleinformatige Papierhandschrift versammelt überwiegend geistliche Lieder in lateinischer, niederdeutscher sowie lateinisch-deutscher Mischsprache, oft auch mit Melodien. ANNIKA BOSTELMANN (Rostock) skizzierte auf der Grundlage der bisherigen Editionslage die möglichen Rahmenbedingungen einer Neuausgabe, die dann auch stärker als bisher die Zirkulationsprozesse der Texte und Melodien im Kontext der Devotio Moderna berücksichtigen sollte.
TIMO BÜLTERS (Bonn) und SIMONE SCHULTZ-BALLUFF (Bonn) haben sich in einem abschließenden Vortrag mit der Frage nach der Produktion und Aufbewahrung des Schrifttums im Kloster Wienhausen beschäftigt und sind dabei Hinweisen nachgegangen, die auf ein Skriptorium oder eine Bibliothek im Obergeschoss des Klosters hinweisen. Auf der Grundlage u.a. von Nekrologeinträgen kamen sie zu dem Ergebnis, dass Ende des 15. Jahrhunderts in Wienhausen über 100 Handschriften zirkuliert haben müssen, die vermutlich sogar in zwei Armarien (einem großen und einem kleinen) aufbewahrt worden sind. Auf eine organisierte Schreibtätigkeit innerhalb des Klosters weist neben einigen Schreiberinnenvermerken in Handschriften und zahlreichen Tintenrezepten ein Neufund aus dem Makulatureinband eines Briefformelbuches (Hs 4) hin: ein das vierte Faszikel umgebender Brief der Wienhäuser Äbtissin Susanna Potstock in niederdeutsch-lateinischer Sprachmischung, in dem über die Möglichkeit der Anfertigung bzw. Fertigstellung von Büchern im und für das Kloster im Nachklang der Reform berichtet wird.
Zusammenfassend wurde in den Vorträgen und Diskussionen des zweiten Wienhäuser Arbeitsgesprächs wiederholt nach den konkreten Nutzungskontexten der Handschriften zwischen Verinnerlichung bzw. persönlicher Andacht und Kommunikation mit der Außenwelt gefragt. Zur Diskussion standen dabei nicht nur konventionelle Vorstellungen von Kohärenz und Werkeinheit, denen die Wienhäuser Bestände oft eine Absage erteilen, sondern auch die Funktionalisierungen der konkreten Sprachverwendung, z.B. zwischen Latein und Vernakulärsprache oder zwischen Fach- und Alltagssprache. Nicht zuletzt ergaben sich durch die Diskussion zur Frage der Buchproduktion und -aufbewahrung im Kloster Wienhausen, an der sich auch die Konventualinnen intensiv beteiligten, Anregungen für ein drittes Arbeitsgespräch, das sich voraussichtlich auf Spurensuche im Kloster begeben wird.